Friedrich Nösselt

 

Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa
für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen

 

Lyrische Poesie.

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

[22] Alle schönen und erhabenen Gefühle können lyrische Gedichte erzeugen; denn unedle Empfindungen, z. B. Neid, Rache, Bosheit, können wohl das Gemüth der Menschen aufregen, aber nie eine Begeisterung hervorbringen, die im Stande wäre, sich poetisch auszudrücken; der Mensch, in dessen Brust Rache kocht, wird nie vermögen oder geneigt sein, seine unedlen Empfindungen in einer bilderreichen und edlen Sprache wiederzugeben. Sobald ein schönes, edles Gefühl stark genug ist, Begeisterung zu erzeugen, so hebt das Gedicht an, und es endigt, sobald die Begeisterung nachläßt, oder wenn sie zu stark wird, um sich in Worte fassen zu lassen. Die Gefühle des menschlichen Herzens können aber sehr mannignigfaltig sein; Ereignisse im menschlichen Leben, Nachdenken, Betrachtung der Natur, Religiosität, auch Leidenschaften können sehr verschiedene Gefühle hervorbringen. Daher giebt es auch verschiedene Arten lyrischer Gedichte. Ganz anders äußert sich das Gefühl der Freude, als das der Bewunderung, der Betrübniß, der Wehmuth, der Hoffnung, der Theilnahme, der Frömmigkeit, der Reue u. s. w. Ebenso sind auch die Gefühle in Hinsicht ihrer Stärke sehr verschieden; von der größten Heftigkeit steigen sie durch unzählige Stufen bis zu solcher Schwäche herab, daß diese zuletzt nicht mehr im Stande ist, Begeisterung zu erzeugen. Bei Unterscheidung der Lyrik in ihren einzelnen Gattungen kann man entweder die äußere Form des lyrischen Erzeugnisses in's Auge fassen; oder das Verhalten des dichtenden Subjektes zu seinem Objekt. In diesem Fall unterscheidet man nur drei Gattungen: das Lied, die Ode und die Elegie; je nachdem der Dichter ganz und gar auf dem Boden der Empfindung bleibt, die Stimmung walten läßt; oder mit der Größe des Gegen[23]standes in kühner Begeisterung ringt; oder endlich Beschreibung und Betrachtung mit einander verbindet.

Nach der äußern Form aber ergeben sich folgende lyrische Dichtungsarten:

1. Das Lied.

2. Die Ode.

3. Die Hymne.

4. Die Dithyrambe.

5. Die Elegie.

6. Die Heroide.

7. Die Cantate.

8. Das Sonett.

9. Das Madrigal.

10. Das Rondeau.

11. Das Triolet.

12. Die Canzone.

13. Die Siciliane.

14. Die Sestine.

15. Die Glosse.

16. Das Cancion.

17. Das Ghasel.

18. Das Ritornell.

 

 

 

 

Druckvorlage

Friedrich Nösselt: Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa
für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen.
Fünfte verbesserte Auflage.
Breslau: Max 1862, S. 22-23.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/iau.31858058447107
URL: https://www.google.fr/books/edition/Lehrbuch_zur_Kenntni%C3%9F_der_verschiedenen/0G9IAQAAMAAJ

 

 

Literatur

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Häntzschel, Günter: "In zarte Frauenhand. Aus Schätzen der Dichtkunst". Zur Trivialisierung der Lyrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980), S. 199-226.

Korte, Hermann u.a. (Hrsg.): "Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten". Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2005 (= Siegener Schriften zur Kanonforschung, 1).

Krautwald, Barbara: Bürgerliche Frauenbilder im 19. Jahrhundert. Die Zeitschrift "Der Bazar" als Verhandlungsforum weiblichen Selbstverständnisses. Bielefeld 2021.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Richter, Sandra: A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770 – 1960. With Bibliographies by Anja Zenk, Jasmin Azazmah, Eva Jost, Sandra Richter. Berlin u.a. 2010.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer