Friedrich Beck

 

Lehrbuch der Poetik

[Auszug]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

II. Lyrische Poesie.
Ihr Wesen und ihre Eintheilung.



Die lyrische Poesie (vom griechischen λύρα, Leyer, weil die Griechen mit diesem Saiteninstrumente den Gesang zu begleiten pflegten) auch melische Dichtung genannt (von μέλος, Glied, strophisch gegliedertes Lied) bildet zur epischen Poesie einen entschiedenen Gegensatz. Während nämlich diese den Stoff in [35] seiner vollen Objectivität erfaßt, ihn mit ruhiger Anschauung wiedergibt, spricht jene dagegen die unmittelbare, subjective Stimmung aus, welche derselbe im Gemüthe des Dichters hervorruft. Da nun das Gefühl der verschiedenartigsten Abstufungen und Neuerungen fähig ist, und auch die Eigenthümlichkeit des Dichters – seine Individualität, – hier in ungehemmter Freiheit waltet, so erwächst für die Lyrik eine weit größere Mannigfaltigkeit des innern Lebens. Doch kann den Empfindungen, welche der Lyriker ausspricht, nur in so weit eine wahrhafte Bedeutung und ein ästhetischer Werth zuerkannt werden, als in ihrer Besonderheit zugleich auch allgemein menschliche Empfindungen sich spiegeln. Um eine solche Wirkung zu üben, um zum Organe dessen zu werden, was jedes menschliche Herz zu bewegen vermag, muß dem Dichter nicht bloß eine ungewöhnliche Stärke der Empfindung eigen sein, er bedarf auch der höchsten Empfänglichkeit, der größten Feinheit des Gefühles. Wenn daher mit dem Epos die bildende Kunst, insbesondere die Plastik, verglichen wurde, so wird der Lyrik vorzugsweise die Musik entsprechen, welche ja ebenfalls ein Ausdruck lebhaft bewegter Gefühle ist. Die Erregung des Gefühles darf aber in dem Dichter niemals eine so gewaltsame und stürmische sein, daß sie ihn verhindert, jene Freiheit und Besonnenheit sich zu bewahren, durch welche alles Trübe verklärt, das Individuelle zum Allgemeinen, zur Idealität erhoben wird. Nur so wird auch das gelegentlich Hervorgerufene und Locale die unvergängliche Weihe der Kunst erhalten. Dieß Ziel wird der lyrische Dichter um so sicherer erreichen, je mächtiger, reiner und edler seine Empfindung ist und auf je größerer Höhe sein ganzes Gemüthsleben steht.

Das innere Leben kann aber

1) als Erguß des Gefühles die Subjectivität des Dichters in seinen persönlichen Erlebnissen, individuellen Lagen und Stimmungen unmittelbar abspiegeln. Es kann aber auch

2) auf große Objecte der Begeisterung und bewundernder Anschauung, auf herzerhebende Wahrheiten oder zur Wehmuth stimmende Ereignisse und Verhältnisse gerichtet sein; und endlich kann es sich

[36] 3) der Außenwelt mahnend und belehrend zuwenden. Der Dichter ergießt dann sein Gefühl theils in sittlich berechtigten Tadel oder Spott, theils folgt er dem Drange vertraulicher Mittheilung der eigenen Lebensansicht. Oft aber auch ringt sich das Gefühl ganz in die Region des Gedankens empor und verweilt in ihr mit stiller Betrachtung. In allen zuletzt genannten Fällen zeigt sich somit ein vorwiegend didaktisches Element.

Hieraus ergibt sich nun für die Lyrik eine ähnliche Eintheilung wie für die Epik. Man hat zu unterscheiden

A. Die reine Lyrik oder Lyrik des Gefühles – wohin besonders das Lied zu zählen ist.

B. Die Lyrik der Anschauung, wohin die Ode und die Hymne, dann die Elegie zu rechnen sind.

C. Die didaktische Lyrik, welche die Satire und Epistel in sich befaßt, auch als Gedankenlyrik sich verschiedener kleinerer Formen wie der des Sonettes, der Ghasele, Glosse u. s. f. bedienen kann.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Friedrich Beck: Lehrbuch der Poetik
für höhere Unterrichts-Anstalten wie auch zum Privatgebrauche.
München: Fleischmann 1862
(= Friedrich Beck: Theorie der Prosa und Poesie.
Ein Leitfaden für den Unterricht in der Stilistik (Rhetorik) und Poetik
an Gymnasien und verwandten Lehranstalten wie auch zum Privatgebrauche.
Zweite Abtheilung: Poetik).

Unser Auszug: S. 34-36.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/umn.31951002122239x
URL: https://www.google.de/books/edition/Theorie_der_Prosa_und_Poesie/xSdKAAAAcAAJ

 

 

Literatur

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Das historische Paradigma der subjektiven Gattung. Zum Lyrikbegriff in Friedrich Schlegels "Geschichte der Poesie der Griechen und Römer". In: Wege in und aus der Moderne. Von Jean Paul zu Günter Grass. Herbert Kaiser zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Werner Jung u.a. Bielefeld 2006, S. 155-174. [PDF]

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Göttsche, Dirk: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus). In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hrsg. von Ralf Simon. Berlin u. Boston 2018, S. 175-200.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 31-59.

Richter, Sandra: A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770 – 1960. With Bibliographies by Anja Zenk, Jasmin Azazmah, Eva Jost, Sandra Richter. Berlin u.a. 2010.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer