[anonym]

 

Lyrische Dichtungen.

[Auszug]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Blätter für literarische Unterhaltung

 

Unter den Dichtern, deren Arbeiten uns heute zur Beurtheilung vorliegen, haben wir, wieder mehrere gefunden, die hervorgehoben zu werden verdienen und deren Dichtungen wir der Aufmerksamkeit des Lesers empfehlen können. Blicken wir überhaupt auf die vielen und verschiedenen poetischen Erzeugnisse zurück, die uns während der zwei Jahre unserer Thätigkeit an d. Bl. zur Besprechung vorlagen, so können wir im Großen und Allgemeinen von den Leistungen nur befriedigt sein. Die lyrischen Dichtungen von Constant, Waldmüller, Apel, Schirmer, Sigismund, Hamerling, Schults u. a. – abgesehen von den Dichtern, deren Gedichte andern Beurtheilern zufielen, wie Hammer, Prutz, Gottschall, O. Banck u. a. –, verdienten wol beachtet zu werden und in der heutigen Besprechung finden sich Arbeiten von Meerheim, Ernst, Moriz Hartmann, Oelbermann und Siebel, die auch ein besseres Schicksal verdienten, als gleich ungezählten Meereswellen zu kommen und zu verrauschen. Wäre die poetische Weltanschauung und die poetische Stimmung des Publikums nur annähernd denen dieser Dichter gleich, so würde man ihnen mit Freuden den Dank und die Anerkennung zollen, die ihnen gebührt; das aber wenigstens beweisen sie, daß wir recht hatten, als wir die Klagen über die Herbstzeit unserer poetischen Literatur, die Behauptung, unsere Zeit könne nichts Poetisches produciren, als Phrasen bezeichneten, hinter denen sich Blasirtheit und Mangel an Verständniß versteckten (vgl. Nr. 3 d. Bl. f. 1858). In der mit Liebe und Interesse unter-nommenen Arbeit für d. Bl. ist es uns immer mehr klar geworden, wie auch die Erweiterung der Grenzen der Kunst und hier hauptsächlich der Poesie, troß aller Ausschreitungen auch ihre unberechenbaren Vorzüge gehabt hat: sie hat zu einer Poesie des Geistes geführt, die zu den innern Weiten des Volks beitragen wird, aus denen sein Heil sicherer kommt als aus den Formen. In der Zerfahrenheit unserer materiellen Zeit hält sie das Ideal, das sie wesenvoller gemacht hat, hoch empor und sucht den einzelnen Menschen ruhig und reif, die Menschheit aber einig, sittlich und frei und dadurch glücklicher zu machen; in ihr lesen wir die Verkündigung, daß aus wirr verworrenen Klängen Versöhnung sich als Schlußaccord löst. Die ideelle Richtung aber, die durch die Poesie des Geistes vertreten wird, ist die, welche zum Heil führt; sie ist es, welche die Wirklichkeit durch den Geist erklärt und erweitert. Das Streben nach dieser Poesie des Geistes zeigt sich in allen Stadien unserer nachclassischen Literaturperiode; es wird das vorwiegend Didaktische der deutschen Poesie dadurch gewissermaßen zum Lehrsatz, die Darstellung der Ideen, die wir übrigens schon gegen Goethe's Billigung ("Briefwechsel zwischen Goethe und Körner", IV, 74) in Schiller's Balladen und dramatischen Werken finden, ist in unserer Zeit auch Aufgabe für die lyrische Poesie geworden. Es ist bemerkenswerth, daß, während die Romantik, die Periode des Weltschmerzes, die geistige Speculation, die politische Dichtkunst und der Materialismus recht eigentlich mit den Stimmungen der Zeit Hand in Hand gingen, die Poesie des Geistes vielmehr den Versuch macht, die auseinandergehenden Bestrebungen zu versöhnen und bei den trüben Aussichten für die Zukunft die harmonische Thätigkeit aller Kräfte auf ein hohes Ziel hinzulenken; es ist ein Versuch, gewissermaßen das Geistige zu popularisiren, den Begriff der Schönheit zum Gemeingut zu machen, die getrennten Parteien zu verbinden und zu versöhnen. Dies geschieht, indem die Poesie des Geistes die verschiedenen Richtungen des geistigen Lebens, die gerade in Deutschland so bedeutend sind, zur Anschauung bringt, indem sie nachweist, daß nur aus den Bestrebungen, die durch innere Weihen verklärt sind, schöne Formen sich entwickeln können, die auch die Gewähr des Glücks geben.

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Blätter für literarische Unterhaltung.
1860, Nr. 13, 29. März, S. 225-234.

Gezeichnet: 8.

Unser Auszug: S. 225.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Blätter für literarische Unterhaltung   online
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PURL: http://digital.slub-dresden.de/id390927252
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URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/501569-8

Blätter für literarische Unterhaltung   inhaltsanalytische Bibliographie
Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts - IBDK.
Band 9; 5 Teile: Blätter für literarische Unterhaltung (1826-1850 [-1898]). München u.a. 1996.

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: anonym

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Felten, Georges: Diskrete Dissonanzen. Poesie und Prosa im deutschsprachigen Realismus 1850–1900. Wallstein Verlag 2022.

Göttsche, Dirk: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus). In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hrsg. von Ralf Simon. Berlin u. Boston 2018, S. 175-200.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 31-59.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Todorow, Almut: Gedankenlyrik. Die Entstehung eines Gattungsbegriffs im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1980 (= Germanistische Abhandlungen, 50).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Zymner, Rüdiger: Funktionen der Lyrik. Münster 2013.

 

 

Literatur: Blätter für literarische Unterhaltung

Bachleitner, Norbert: Die Aufnahme der englischen Literatur in den 'Blättern für literarische Unterhaltung' (1818-1898) In: Beiträge zu Komparatistik und Sozialgeschichte der Literatur. Amsterdam u.a. 1997, S. 99-149.

Hauke, Petra-Sybille: Literaturkritik in den Blättern für literarische Unterhaltung 1818 – 1835. Stuttgart u.a. 1972 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur, 27).

Hohendahl, Peter U.: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830 – 1870. München 1985.

Obenaus, Sibylle: Die deutschen allgemeinen kritischen Zeitschriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entwurf einer Gesamtdarstellung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1973), Sp. 1-122.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer