[anonym]

 

 

[Rezension]

 

Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Westermann's Illustrirte Deutsche Monatshefte

 

Gedichte von Hermann Lingg. Herausgegeben von Emanuel Geibel. Stuttgart und Tübingen, J. G. Cotta'scher Verlag.

 

[203] Einen Dichter, und besonders einen Dichter der Gegenwart zu beurtheilen ist keine leichte Aufgabe. So weit die deutsche Zunge klingt, kann man sagen, daß sie Gedichte macht und Lieder singt und so weit die deutschen Pressen stehn, wird man auch sehen, daß Verleger in die Falle gehn. Deutschland hat mehr Dichter, als es braucht, das ist keine Frage und mit Recht kann man sich daher über seine Kritik beschweren, die ihm den Boden nicht rein gehalten, sondern das Unkraut hat überwuchern lassen. Sehe man doch einmal die meisten Kritiken neuerer Gedichte nach, wie fangen sie fast ohne Ausnahme an? "Die Masse der Dichter, welche sich jetzt berufen fühlen, vor die Oeffentlichkeit zu treten, droht nachgerade unübersehbar zu werden. Dem vielen Mittelmäßigen und Schlechten gegenüber freut es uns, sagen zu können, daß wir es hier wieder einmal mit einem wahren Talente, mit einem Dichter von Gottes Gnaden zu thun haben." – Ja wohl! Von Gottes Gnaden! Wir hoffen zur Ehre des Herrn, daß er noch ganz andere Gnaden im Rückhalt habe, als die sind, durch die er uns einen großen Theil unserer jetzigen Poeten spendet. Mit der angeführten Phrase aber, wenn auch nicht ganz mit ihrem Wortklang, kann man annehmen, daß unter zehn neuen Poeten neune eingeführt werden. Jeder wird als eine Ausnahme von der Regel verkündet und am Ende haben wir so die ganze Regel als Ausnahme von sich selbst. Die Kritik hätte diesem Unfug vorbeugen sollen, haben wir gesagt, allein wir geben zu, daß eine gute Kritik einem impotenten Geschlechte gegenüber einen mißlichen, fast zweideutigen Standpunkt einnehmen muß, sie erscheint gehässig; das Publicum ist – und nicht ganz mit Unrecht – nur zu sehr geneigt, in dem "steten Verneinen" nicht einen guten, wohl aber einen bösen Geist zu erblicken. Ist der Stand des Kritikers schwer, so lange er dem Pygmäengeschlecht der Gegenwart gegenüber sich nur auf große Beispiele der Vergangenheit berufen kann, so wird er dagegen leicht und lohnend, wenn in der unmittelbarsten Gegenwart Geister erstehen, an denen sich das Ringen und Streben einer ganzen Zeit erkennen und messen läßt, an denen man zu zeigen vermag, daß ein Zoll von einem Könige noch lange nicht den König und daß die verwundbare Ferse noch lange nicht den Achilles macht. Tauchen solche große Naturen in einer Nation auf, so werden sie in Zeiten, in welchen jeder Einzelne nicht selbst in Größe dilettiren und stümpern will, allgemein anerkannt, freudig begrüßt werden; in Zeiten jedoch, in welchen die Mittelmäßigkeit sich als Genie definirt, in welchen man Bildung für Geist, Routine für Originalität nimmt, wird man sie bei Seite liegen lassen und zu ignoriren suchen; denn vorherrschende Geister werden um so unbequemer, je mehr eine allgemein sich verbreitende Bildung scheinbar einem Jeden Recht giebt, auf das, was er erlernt, stolz und selbstgefällig hinzublicken.

Mit diesen Bemerkungen sind wir bei Hermann Lingg angelangt, der vor ungefähr zwei Jahren durch Emanuel Geibel in die Literatur eingeführt, unter den lebenden Dichtern sich als einen der ersten zu erkennen giebt.

Lingg ist ein geborener Baier. Früh zum Studium der Theologie bestimmt, kommt seine innere Neigung bald mit diesem ihm von Außen angewiesenen Berufe in eine Reihe unglücklicher Conflicte, die nicht allein in sein äußeres Leben, sondern auch in sein inneres trübe bleibende Schatten werfen. Aber es scheint einmal der Dichternatur vorbestimmt, daß sie erst durch dunkele, räthselvolle Geschicke zu ihrer Größe kommt, daß gerade das Uebermaß ihrer Wünsche und Empfindungen den kleinen Verhältnissen des Lebens gegenüber sie zur Entwickelung aller ihrer Kräfte drängt. Die Poesie hat mit den Naturwissenschaften eigentlich sehr wenig zu thun, aber ein treffendes Bild läßt sich aus den Gesetzen jener für diese gewinnen. Wie der [204] Dampf, wenn ihm die Räume, die er zu erfüllen strebt, versagt sind, wenn er in enge Schranken gezwungen wird, sich concentrirt und spannt, seine Kräfte von Minute zu Minute steigert und das Unglaubliche vollbringt, so wird die Dichternatur, wenn ihr das Leben Tausende von Wünschen versagt, zurückgedrängt und auf sich selbst angewiesen, diese ins Unendliche gesteigerten Kräfte zu größeren Zwecken zu verwenden, große Resultate damit zu erzielen. Denn unsere Wünsche, unsere Begierden sind Kräfte, die Erfüllung suchen und die bei gesunden Naturen, von Zeit zu Zeit energisch zurückgewiesen, in edlerer Gestalt wieder zu Tage kommen. Daß einer solchen Einschränkung ihr richtiges glückliches Maß gesetzt sein muß, versteht sich von selbst. Geschicke, wie die Lenaus und Hölderlins, lehren uns, daß es, überschritten, seine Opfer zu fordern weiß. Auch die Dichtungen Linggs, da wo sie subjectiver Natur sind, tragen alle ein Colorit, welches uns fast zu düster, zu unglückdeutend erscheinen könnte. Tiefe, unverlöschbare Spuren des Schmerzes scheinen in seinem Leben zurückgeblieben zu sein, die der Hoffnungsschimmer endlicher Befreiung nur schwer zu mildern vermocht hat.

Hören wir ihn selbst:

Kein Schutzgeist unterband mir Goldsandalen,
An meiner Wiege stand mein Widerstreiter,
Zu Thaten schritt nicht einen Schritt ich weiter,
Wo nicht Zufälle den Erfolg mir stahlen.

Zum freudelosen Sieg nach tausend Qualen
Macht' ich die Bahn mit meinem Blut nur breiter,
Nie, nie beging ich unumschränkt und heiter
Die großen, meines Lebens Kaiserwahlen.

Mein Streben, alles blieb ein fruchtlos rauhes
Bestürmen ewig neuer Widerstände,
Ein Kampf mit Säulen eines Felsenbaues.

Für meinen Durst, für meine Leberbrände
Fiel nie das Manna jenes Seelenthaues
Des Trostes, daß ein Herz mit mir empfände.

Wir werden unten Gelegenheit nehmen, von den verschiedenen Dichtungen Linggs Proben anzuführen. Sie waren zurückgewiesen worden von den Verlegern und lagen vergraben. Da ward Geibel durch einen Zufall aufmerksam gemacht auf ihn und nun erfüllte sich ein poetisches Wort, welches er früher einmal ausgesprochen:

Wie lang durchblätterst du noch diese Rolle,
D'rauf jedes Unrecht steht, das du erlitten,
Das deiner Brust mit Haß ward eingeschnitten
Und eingeätzt mit langgenährtem Grolle?

Es kommt die Zeit noch, die erfüllungsvolle,
Sie kommt, wo du emporgerichtet, mitten
Durch deine Feinde gehst mit freien Schritten
Und fragest, wer dich noch mißachten wolle.

Dann wirst du jedes Denkmal der Entweihung,
Wirst Grimm und Staub aus deinem Leben merzen
Und deine Seele tränken in Befreiung.

Erlöst von einem großen Menschenherzen,
Wirst du die Thräne glühender Verzeihung
Ausweinen und die lange Nacht verschmerzen.

Sie war wirklich erschienen, jene "erfüllungsvolle Zeit". Die Theilnahme des Publikums war so groß, daß am ersten Tage des Erscheinens der Gedichte allein in München 100 Exemplare vergriffen wurden und daß eine neue Auflage bereits vorbereitet wird. Der Dichter erhielt von Sr.  Majestät dem Könige Marimilian II. eine Pension und kann nun heiter seiner Zukunft entgegensehen.

Gehen wir nach dieser flüchtigen Lebensskizze auf die Dichtungen selbst etwas näher ein.

Lingg tritt in dem kleinen 154 Seiten starken Bändchen nur als lyrischer Dichter vor uns. Aber die Grenzen seiner Lyrik sind sehr weit gezogen. Von dem einfachen Lied der Klage, welches rührend und tief aus der Seele quillt, bis zu der großartigsten Auffassung historischer und culturgeschichtlicher Zustände besitzt er in seinen Dichtungen eine Gestaltungskraft, eine Größe des Ausdrucks und des Bildes, die wir vergebens bei anderen modernen Dichtern suchen dürften. Man könnte seine Lyrik, was diese Fähigkeit, historische Zustände groß und richtig aufzufassen, anlangt, mit der Schillers vergleichen, allein Lingg ist in seiner Größe und Schwäche durch und durch ein Dichter unserer Zeit, ja wir möchten ihn einen Zukunftsdichter nennen, wenn nicht die Zukunftskunst durch die Wagner'sche Anmaßung und durch ihre, bis jetzt noch nicht aufgehobene völlige Resultatlosigkeit, bei der Kritik so sehr in Verruf gekommen wäre. Es dürfte sich aber ein anderer Standpunkt finden, von dem aus sich die Linggschen Dichtungen charakterisiren lassen. Als in Italien die religiöse Malerei und zu gleicher Zeit die weltliche Kunst in den Niederlanden in ihrer höchsten Blüthe stand, da waren es fast durchweg die Geschicke einzelner Personen, die zu Objecten des Schaffens gewählt wurden; daß das Portrait in jener Zeit sein Höchstes leistete, mag wohl in diesem Umstande begründet liegen. Diejenige Richtung der Kunst, die in unserer Zeit am entschiedensten Epoche gemacht hat, die Kaulbach'sche, ist durchaus anderer Art. Kaulbach's Meisterwerke stellen nicht die Geschicke und die Handlungen verschiedener Individualitäten dar, seine Bilder befassen sich mit den Geschicken der Menschheit und ihrer Stämme; sein Thurmbau von Babel zeigt die Scheidung der Racen, seine Zerstörung Jerusalems den Auszug des Christenthums in alle Welt. Diese Richtung der modernen Malerei liegt tief begründet in unserer ganzen modernen, socialen und politischen Entwickelung. Ob dieselbe eine nachhaltige, für die Geschichte der Kunst selbst eine von großen Folgen und Wirkungen begleitete sein wird, ist eine andere Frage, die wir hier nicht unbedingt bejahen möchten. Vor der Hand glauben wir, daß Kaulbach eher eine Periode abschließt, als eine neue beginnt, sind aber weit davon entfernt, den ästhetischen Werth seiner Schöpfungen deswegen verkennen zu wollen. Wie Kaulbach in der modernen Malerei, so steht Lingg in seinen größten Leistungen in der modernen Dichtkunst da. Auch er besitzt jenen großen Blick, der den Zeitpunkt in seinem innersten Nerve erfaßt, wo eine Culturepoche schließt und eine neue beginnt; er weis unvergleichlich in wenigen genialen Zügen eine Katastrophe zu malen, durch welche die Menschengeschichte in neue Phasen tritt; er abstrahirt gerne von Persönlichkeiten und zeigt uns die Wendepunkte der Geschichte als die nothwendigen Folgen [205] der sittlichen Mächte und Gewalten, die in den untergehenden und aufstrebenden Völkern thätig waren. Nehmen wir als bestes Beispiel folgendes Gedicht:

      Attila's Schwert.

Unter'm Eichbaum auf der Haide
Liegt ein Riesenschwert uralt,
Oft in seiner dunklen Scheide
Zuckt es durch den Felsenspalt.

Heimlich warten Gnom und Elfe
Wachsam bei dem großen Schatz;
Aber Eber nur und Wölfe
Wissen den gefeiten Platz.

Endlich finden's Hunnenkrieger.
Attila empfängt den Hort
Und er ruft:   Als Weltbesieger
Grüßt mich hier ein Götterwort.

Spricht's und schwingt das Schwert der Ahnen
Wie zum Wurf nach West empor,
Allen Hunnen und Alanen
Schien es wie ein Meteor.

Hoher Wiederschein vom Himmel
Dehnt sich wie Kometenglanz;
Durch die Luft ein Schlachtgetümmel
Hört der Kaiser in Byzanz.

Hört's und ruft den Astrologen,
Der ihm nun, wie Alles schweigt,
Auf des Bospors dunklen Wogen
Schwanke, blasse Sterne zeigt:

"Kaiser! Gott und Götter schlafen,
Deine großen Feinde nahn!
Mische Gift und opfre Sklaven
Thaten hast du nie gethan!"

Hier ist freilich sowohl die Persönlichkeit des Attila als die des Kaisers von Byzanz genannt, dieselben sind jedoch nur hereingezogen, um durch sie auf der einen Seite das lebenskräftige, kühne Hunnenvolk, auf der anderen das entnervte, sieche byzantinische Kaiserreich zu charakterisiren. Wie herrlich ist die Stelle:

Attila empfängt den Hort
Und er ruft: Als Weltbesieger
Grüßt mich hier ein Götterwort.

Er und sein Volk glauben noch an Götterworte aber nicht an solche, die ihnen bleiche Astrologen verkünden; das lebendige Gefühl der Kraft, das beste Götterwort, welches dem Manne in der Brust ruhen kann, das grüßt sie, das ruft sie auf zur Eroberung der Welt. Und auf der anderen Seite der Kaiser von Byzanz, der in der Luft ein Schlachtgetümmel zu hören glaubt:

Hört's und ruft den Astrologen,
Der ihm nun, wie Alles schweigt,
Auf des Bospors dunklen Wogen
Schwanke, blasse Sterne zeigt:

"Kaiser! Gott und Götter schlafen,
Deine großen Feinde nahn!
Mische Gift und opfre Sklaven,
Thaten hast du nie gethan!"

Er muß sich die Deutung seines Schicksals von anderen erst geben lassen und mit ihm die Gewißheit, daß sein Reich durch eigene Verschuldung untergeht. Wenn unsere Zeit einer poetischen Gestaltung fähig ist, so wird auf dem Felde der Lyrik dies nicht durch die politische Sangsweise eines Freiligrath sondern einzig und allein auf dem von Lingg eingeschlagenen Wege möglich sein. Freiligrath und seine Collegen wie Nachahmer stellen bei einzelnen Krankheitserscheinungen geistreiche Diagnosen auf, aber einen Blick in den Organismus der Kräfte, einen Sinn für großartige Auffassung geschichtlicher Zustände haben sie nicht. Und die Poesie hat ja nun einmal nicht den Zweck, die Physiognomie eines Tages oder einiger Jahre abzuconterfeien, ihr sind im Einzel- und im Gesammtleben nur die Erscheinungen Stoff, welche, von großen Wirkungen begleitet, Einfluß ausüben auf alle Tage und auf alle Zeiten des menschlichen Daseins.

Gleich großartig sind die Proben des epischen Gedichtes: die Völkerwanderung, von welcher besonders das Bruchstück: Geiserich's Abzug aus Rom durch Kühnheit der Auffassung und durch poetische Kraft sich auszeichnet. Die Vandalen ziehen mit ihrer Beute aus Rom; auf ihren Schiffen führen sie die geraubten Bilder und Statuen der olympischen Götter mit den gefangenen Römern dahin. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel und ein vernichtender Sturm bricht los. Ein schrecklich schönes Schauspiel bilden jetzt die auf den Schiffen aufgestellten Götter im Toben der Elemente:

Ein Bild Neptuns stand zwischen Eichenkloben
Aufrecht gebunden an den Vordermast.
Wenn nun das Schiff emporgehoben
Hoch in die Wellen sprang mit seiner Last,
Erschien der Meergott wie in Wolken oben,
Den goldnen Dreizack hielt sein Arm gefaßt,
Und neben ihm, der finster niederdrohte,
Stand furchtbar Hermes da, der Götterbote.

Die Vandalen glauben, daß die geraubten Götter den Sturm erregt und beginnen einen verzweiflungsvollen Kampf gegen die todten Steinmassen. Sie zerstücken sie, werfen sie in das Meer; jedoch auch ihr Untergang ist beschlossen, ein Blitz fährt in das Schiff und es sinkt in die Tiefe:

So gegen Götter mit den halbverbrannten,
Halbnackten Leibern gleicht ihr Kampf dem Drohn
Der alten Himmelsstürmer und Giganten,
Wie sie mit Zeus im Zwist vom Pelion
Machtlose Schwerter gegen Blitze wandten;
Doch bald ist's aus.   Die nächste Sturzfluth schon
Begräbt mit donnerähnlichem Gedröhne
Ins Meer die nordischen Titanensöhne.

Wie wir vor einiger Zeit aus den Proben ersehen, welche das Münchener Abendblatt mitgetheilt, schreitet das Werk, welches hier nur bruchstückweise vor uns liegt, seiner Vollendung entgegen und es steht dessen Veröffentlichung baldigst bevor.

[206] Was wir von der historischen Lyrik Linggs gesagt, gilt auch von seinen anderen Dichtungen. In den einfachen Klängen des Herzens finden wir jene Sicherheit und charakteristische Kraft des Ausdruckes, die wir in seinen großen historischen Bildern bewundern. Man nehme folgendes Lied:

Immer leiser wird mein Schlummer,
Nur wie Schleier liegt mein Kummer
Zitternd über mir.
Oft im Traume hör ich dich
Rufen draus vor meiner Thür,
Niemand wacht und öffnet dir,
Ich erwach und weine bitterlich.

Ja ich werde sterben müssen,
Eine andre wirst du küssen
Wenn ich bleich und kalt,
Eh die Maienlüfte wehen,
Eh' die Drossel singt im Wald,
Willst du mich noch einmal sehen
Komm, o komme bald!

oder aus einem Gedichte betitelt: die Schiffersfrau, in welchem diese vergebens die Heimkehr ihres seit Jahren auf dem Meere treibenden Gatten erwartet, folgende wunderbar schöne Strophe:

Oft fallen mir alle die Namen bei
Von Männern, die untergegangen,
Von denen wir oft am Abend zu zwei
Die traurigen Lieder sangen,
Vergessene Menschen in fremder Tracht
Besuchen mich oft im Traume der Nacht.

Ist hier die Phantasie einer todesbangen Seele nicht auf ihrem geheimsten Spuk ertappt? Jedes Wort, das man einem solchen Liede zum Lobe und zur Erläuterung zusehen wollte, wäre Sünde; das ganz Vollendete sowie das ganz Mißlungene haben beide die charakteristische Eigenschaft, daß sie sich durchaus selbst erklären.

Gleich vortrefflich sind die Gedichte: An meine Mutter, Carneval, Tannhäuser u. A. – aber alle diese scheinen nur Zwischenklänge; immer wendet er sich wieder zu großen historischen oder culturgeschichtlichen Stoffen. Er liebt es dann, die Grenzen unseres Welttheils zu überspringen, nicht aber um interessante geographische und Unterschiede in der Thier- und Pflanzenwelt zu entdecken, aus welchen er seine Bilder schafft – nein, auch hier folgt seine Phantaste höheren Zwecken und diese sind etnographischer Natur. So sagt er von Amerika

Ernst und trüb ist euer freudenarmer
Gottesdienst; durchs Dunkel der Prairie
Schweigend jagt sein müdes Roß der Farmer,
Sanglos wandert sie die Colonie;
Ja aufs letzte Blatt der Weltgeschichte
Schreibt ihr Käufer über'm Ozean
Nach der Vorzeit großem Thatberichte
Friedlich eure trocknen Zahlen an.

            *       *       *

Doch gesegnet sei und Friede, Friede
Dir Amerika; die Abendruh
Die der müdgequälte Promethide
Längst ersehnt hat, die erfülle du!
Gieb der Menschheit endlich Sonntagsstille
Nach Jahrhunderten voll Nacht und Blut,
Ernst verbleib und tadellos dein Wille,
Tugend deine Kraft, das Recht dein Muth! *)

Deine Sternenflagge walle, siege,
Trage nie ein anderes Symbol,
Niemals nach geschloss'nem Bürgerkriege
Steig ein Cäsar auf dein Capitol.
Heil Columbia dir! im Ozeane
Schwimmst du als ein großes Rettungsboot,
Alle Völker mit zerrissner Fahne
Blicken hin nach dir im Abendroth.

Wir enden hiermit unsere Betrachtung und sagen zum Schlusse noch ein Paar Worte über die Sonette unseres Dichters. Sie reihen sich dem Besten an, was wir in dieser Gattung von Poesie besitzen. Das Sonett ist ohne Frage für bloße Talente und Dilettanten die leichteste ergiebigste Form der Poesie. Freilich sollte man, wenn man seine feinen, strengen Grenzen betrachtet, glauben: je enger der Schuh, um so leichter wird er drücken. Gewiß! Aber man bedenke, daß eitle Menschen um einen schönen Fuß oder einen schönen Geist herzeigen zu können, die Plattheit des Inhalts sehr gerne in den engen Schuh und in das Sonett hineinzwängen. Daher die unendliche Masse mittelmäßiger Sonette in unserer Literatur. Dieser Uebelstand darf jedoch der Dichtungsform nicht zu Last gelegt werden und grade bei Hermann Lingg sehen wir was ein Dichter, dem die Fülle der Anschauung und der Empfindung zu Gebote steht, aus diesen einfachen vierzehn Zeilen machen kann. In Linggs Sonetten kehren alle seine dichterischen Eigenthümlichkeiten, vor allem die plastische Klarheit seiner Auffassung wieder. Das Sonett: Mittagszauber ist ein wunderbares Stimmungsbild, wie wir es bei den bekannten Naturdichtern früherer Zeiten in gleicher Wahrheit vergeblich suchen dürften. Zur Probe lassen wir sogleich noch einige folgen. Und so machen wir, ehe wir von unserem Dichter scheiden, den Leserkreis der "Illustrirten Monatshefte" ernst und dringend auf ihn aufmerksam. Sie hat es sich ja zum Zweck gesetzt, alles was von den großen hervorragenden Geistern unsrer Nation auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft errungen und geschaffen wird, ihrem Volke an das Herz zu legen und es im unmittelbarsten Verkehr zu erhalten mit den Trägern seiner Größe und seiner nationalen Entwickelung. Und Lingg ist ein Dichter seiner Nation, seiner Zeit und ihrer Bedürfnisse, aber er ist keiner, der ihr blos für eine Schellenkappe sorgt, damit sie sich geistreich über sich selbst lustig machen kann – er steht prophetisch, verheißungsvoll in ihr und ihn kennzeichnet vor Allem jene schöne Eigenthümlichkeit einer wahren Dichternatur, vermöge der der Genius die nächsten und fernsten Wirkungen überschaut und rasch verknüpft und durch ein Wort, einen Blitz des Gedankes in der Aufeinanderfolge großer Begebenheiten den Nerv alles Lebens: das ewige Walten sittlicher Mächte bloszulegen vermag.

 

 

[Fußnote, S. 206]

*) Das kann freilich nur dem Ideal Amerikas gelten, von dem sich das Wirkliche von Tag zu Tag mehr entfernt!   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Westermann's Illustrirte Deutsche Monatshefte.
Bandtitel:
Westermann's Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte.
Ein Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart.
Bd. 1, Oktober 1856-März 1857, Nr. 2, November 1856, S. 203-206.

Ungezeichnet

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Westermann's Illustrirte Deutsche Monatshefte   online
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Westermann's Illustrirte Deutsche Monatshefte   inhaltsanalytische Bibliographie
Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts - IBDK.
Band 8. München u.a. 1996.

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: anonym

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Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 31-59.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Stockinger, Claudia: Lyrik im Gebrauch. Zum Stellenwert und zur Funktion von Gedichten in massenadressierten Periodika nach 1850 am Beispiel der Gartenlaube. In: Lyrik des Realismus. Hrsg. von Christian Begemann u. Simon Bunke. Freiburg i.Br. u.a. 2019, S. 61-86.

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Literatur: Westermann's Illustrirte Deutsche Monatshefte

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Dussel, Konrad: Bilder als Botschaft. Bildstrukturen deutscher Illustrierter 1905-1945 im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Publikum. Köln 2019.

Hipp, Alice: Prosaistinnen in Kulturzeitschriften der Jahre 1871 bis 1890. Zur statistischen Repräsentanz und Autornamenwahl schreibender Frauen in Die Gartenlaube, Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte und Deutsche Rundschau. In: Vergessene Konstellationen literarischer Öffentlichkeit zwischen 1840 und 1885. Hrsg. von Katja Mellmann und Jesko Reiling. Berlin 2016, S. 81-106.

Igl, Natalia / Menzel, Julia (Hrsg.): Illustrierte Zeitschriften um 1900. Mediale Eigenlogik, Multimodalität und Metaisierung. Bielefeld 2016.

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Jürgensen, Christoph: "Bildung und Wissen, und zwar in volkstümlicher Weise, dem allgemeinen Verständnis zugänglich machen". Tradition (er)finden in Westermanns Monatsheften. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 44.1 (2019), S. 240-254.

Podewski, Madleen: Mediengesteuerte Wandlungsprozesse. Zum Verhältnis zwischen Text und Bild in illustrierten Zeitschriften der Jahrhundertmitte. In: Vergessene Konstellationen literarischer Öffentlichkeit zwischen 1840 und 1885. Hrsg. von Katja Mellmann und Jesko Reiling. Berlin 2016, S. 61-79.

Reusch, Nina: Populäre Geschichte im Kaiserreich. Familienzeitschriften als Akteure der deutschen Geschichtskultur 1890 - 1913. Bielefeld 2015.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer