Text
Editionsbericht
Literatur: Anthologie
[VI] Längst hegte der Herausgeber im Stillen den Wunsch, eine Auswahl
gediegener deutscher Gedichte aus allen Zeiträumen zusammenzustellen.
Dabei konnte nicht Absicht sein, die überreiche Zahl zum Theil
vortrefflicher, zum Theil werthloser und überflüssiger Anthologien
auf's Gerathewohl um eine zu vermehren. Die leitende Idee zu der
vorliegenden Sammlung war diese: Der aufblühenden Jugend und dem
Volke für Schule und Haus eine Auswahl von Proben deutscher Poesie
in lyrischer Form, ohne Episches pedantisch auszuschließen, von
möglichst vielen Dichtern und auf allerbilligstem Wege zugänglich
zu machen.
Nicht nach metrischen Formen, um diese den Lernenden durch Beispiele
zur Anschauung zu bringen, nicht nach Gattungen, und nicht nach
sogenannten Dichterschulen sollte hier die Aufeinanderfolge sich
bieten, sondern nach chronologischen Reihen und Gruppen. Den
Entwickelungsgang deutscher Dichtung kennen zu lernen, erachte ich
für wichtiger als die Formenlehre, welche besondere Lehrbücher bedingt.
Die meisten, und darunter auch die gründlichen Sammler für den
gleichen Zweck, haben altdeutsche und mittelhochdeutsche Gedichte
fast ganz ausgeschlossen, doch gewahre ich in meinem Amte mit
Freude, wie der Sinn unserer Jugend unter Anleitung tüchtiger und
einsichtsvoller Lehrer auch diesen frühen Quellen zustrebt; daher
wurde es mir Verpflichtung, mindestens mit einigen Proben ältester
Zeit und mehrern aus der Blüthenzeit der vaterländischen Poesie unter
den Hohenstaufen, diese Sammlung zu schmücken. Es wird die Zeit nicht
allzufern sein, wo das Studium der alt- und mittelhochdeutschen Sprache,
in welcher der germanische Geist sich so groß und schön offenbart hat,
nicht mehr dem Studium der griechischen, römischen oder hebräischen
in den deutschen höhern Lehr- und Bildungsanstalten nachstehen muß.
Daß ich das deutsche Kirchenlied mit der ihm gebührenden Achtung
berücksichtigte, wird kein Kundiger tadeln; jedes der aufgenommenen
Kirchenlieder tritt hier in seiner ureigenthümlichen Gestalt vor Augen,
nicht nach spätern, oft sehr willkürlichen Veränderungen. Ebenso war
andrerseits das deutsche Volkslied, diese ewig frischgrüne Ranke
nationaler Dichtung, nicht hintan zu stellen, doch konnte ich auch
hier mich in der Auswahl beschränken, da es weder für das rein lyrische,
noch für das historische Volkslied an guten Sammlungen fehlt.
Selbst in das spätere Volkslied flüchtete und rettete sich der ganze Zauber deutscher Gemüthsinnigkeit; deshalb wählte ich von vielen namhaften Dichtern mit Absicht solche ihrer Lieder, die zu Volksliedern geworden sind. In gleicher Absicht wurde von ungenannten Dichtern eine erlesene Reihe Volkslieder an die Grenze zwischen das 18. und 19. Jahrhundert gestellt. Es mag zwar Viele geben, denen dieser Zweig am Baume der Nationalpoesie nicht gefällt, aber wir wollen bei allem Ernst, den die Gegenwart so gebieterisch fordert, doch ja den Schatz gemüthsinniger Dichtung nicht verachten, den wir besitzen, noch weniger ihn gegen politisches Rauschgold muthwillig vertauschen und aufgeben.
[VI] Bei den Proben aus den frühern Perioden sind überall die Quellen
angegeben. Die Gedichte der Minnesinger wurden nach H. Fr. von der
Hagen's großer verdienstvoller Sammlung, mit Beibehaltung der in derselben
angenommenen Gliederung der einzelnen Gedichte, wie der Orthographie,
soweit letztere beibehalten werden konnte, aufgenommen. Accentuirung,
welche Manche vermissen werden, lernen die, welche das Mittelhochdeutsche
zum Studium machen, bald aus den gediegenen kritischen Ausgaben
mittelhochdeutscher Dichtungen eines K. Lachmann u. A.
Von der Zeit des deutschen Krieges an habe ich moderne Rechtschreibung
eintreten lassen, da die Orthographie durch ihre Verschlechterung in
jenen Perioden aufhört, den Dichtungen eine Eigenthümlichkeit mit zu
verleihen. Die Lieder aus der Zeit des Bauern- deutschen und
dreißigjährigen Krieges gebe ich keineswegs als Musterstücke deutscher
Poesie, sondern ich gebe sie und auch mehrere der darauf folgenden
Volkslieder, um Anschauungs-, Ausdrucks- und Gefühlsweise jener Zeit
in einigen Proben darzulegen. Poesie ist wenig in diesen Gedichten,
aber viel Keckheit, Humor und kernige Naturfrische.
An der Periode des Verfalles der vaterländischen Poesie war rasch vorüberzugehen, ohne doch die namhaften Poeten auszuschließen. Meist bediente ich mich hier vorzugsweise der Originalausgaben, und nur wo diese mir mangelten, griff ich zu guten Anthologien. Mir selbst habe ich eigenmächtige Aenderung nie gestattet.
Aus guten Gründen habe ich von manchen neueren Dichtern mehr
Einzelgedichte aufgenommen, wie von älteren, bei denen ich mich
meist auf eine Probe beschränkte.
Daß ich auch der jüngsten deutschen Lyrik die verdiente Beachtung
widmete, (wobei gegen den Schluß des Buches hin, streng chronologische
Folge zu beachten, unmöglich war,) wird man wohl finden, dennoch konnte
nicht erzielt werden, von allen lebenden deutschen Dichtern der Gegenwart
ein Gedicht zu bringen. Möge Keiner dies als Vernachlässigung deuten!
Auch maße ich mir nicht an zu glauben, daß ich hier in der Auswahl immer
glücklich gewesen sei, allein ich wollte dem Beispiel solcher Sammler
nicht folgen, die vor der Auswahl ganz zurückschrecken, weil manches
Gedicht ein Warnungsbeispiel abgiebt, wie man nicht dichten soll, und
deshalb lieber die ganze jugendliche Bestrebung in deutscher Lyrik mit
Nichtkennenwollen abfertigen, was zwar bequem, aber nicht löblich ist.
Was ich von meinen eigenen Dichtungen gebe, möge darthun, wie ich überhaupt gestrebt, bei der Auswahl wo möglich auch auf die persönliche Eigenthümlichkeit der Dichter selbst Rücksicht zu nehmen.
Bei alledem wird die vorliegende Sammlung nicht mängel- und tadelfrei befunden werden; möge indeß auch aus diesem bescheidenen Scherflein jene urewige Macht des Gottesgeistes vaterländischer Poesie widerstrahlen, deren Schöpferodem durch alle Jahrhunderte schaffend und belebend weht, und immerdar derselbe ist: Aufschwung des Geistes und Gemüthes aus des Lebens Wirren und Fesseln in das Wunderland des Genius, in die Heimath der Schönheit und der Freiheit.
Meiningen, im December 1844.
Ludwig Bechstein.
[VII] Nachdem mein deutsches Dichterbuch in erster Stereotyp-Auflage
sich innerhalb eines Jahrzehents vergriffen hat, und zugleich auch in
einen andern Verlag übergegangen ist, erfüllte ich mit Freude den Wunsch
des jetzigen Herrn Verlegers, dem Buche erneute Durchsicht, Ueberarbeitung
und Vermehrung angedeihen zu lassen. Es wurde mit Ernst darauf Bedacht
genommen, frühere Mängel zu entfernen, übermäßige Längen zu kürzen, und
Rücksicht auf den jungen Nachwuchs im deutschen Dichterwald zu nehmen, der
von 1844 an, dem Jahre des Erscheinens der ersten Auflage, trotz der
Windbrüche der Jahre 1848 und 1849, im fröhlichen Gedeihen aufzuschießen
strebt, und manche mit gerechtem Beifallruf begrüßte Wipfelkronen zeigt.
Unter diesen stehen freilich zahllose Schößlinge,
die da wähnen, es wandle
sich sorg- und mühelos in die Tempel der Poesie und des Nachruhms geradezu
hinein, und an denen fort und fort sich Goethe's Wort erfüllt:
Die guten jungen Geister
Sind alle voneinemSchlag;
Sie nennen mich ihren Meister
Und gehen der Nase nach.
Diese mögen in ihrem ringen und streben auf guten Wegen weiter zu kommen suchen, mögen Acht haben, daß ihre Lieder frei und rein gehalten bleiben von wälschen und sonstigen fremdländischen Worten, wie von grundfalschen Reimen, auch daß sie die Zinnen der Parteiung und die Schlammgräben der Gemeinheit, wie nicht minder die schlüpfrigen Pfade des leichtfertigen Frevels am hohen, heiligen und göttlichen meiden, denn alles dies bringt nicht ihnen, und noch viel minder der vaterländischen Poesie Gedeihen, an der wir deutschen Dichter doch alle und insgesammt als an einem Palladium des Vaterlandes zu halten haben, und sie nicht mit eigenen Händen <verunehren> dürfen! Es wird keinem schaden, es mit seinem dichten ernst, statt leichtfertig zu nehmen, die Fülle und den Reichthum seiner Gedanken mit Anmuth und Lieblichkeit des Ausdrucks zu verbinden, nach Folgerichtigkeit wie nach Formglätte zu ringen, und dem Ideale ästhetischer Schönheit nachzustreben, wenn auch nur wenigen auserwählten vergönnt bleibt, demselben nahe zu kommen.
Es wohnt der deutschen Poesie eine ureigene selbstverjüngende Kraft inne,
mit der sie sich durch alle Zeitenwechsel und Zeitenwirren hindurchringt,
und allen angeflogenen entstellenden Staub von ihrem Aethergewande rasch
abstreift; sie badet sich, wie Melusine in tiefgeheimer Krystallgrotte,
in einem ewigen Verjüngungsborne, und
[VIII] geht so gefeit durch die Jahrhunderte,
daß weder der Schuhsterleisten des
meistersängerischen Regelzwanges; noch der pedantische Schulstaub des
Gelehrtenthums, noch die Brandfackel des dreißigjährigen Krieges, noch
Zopf und Puder und Perücke der späteren Zeit, weder Mystik noch Romantik,
weder der galvanischzuckende Froschschenkel poetischer Weltschmerzlichkeit,
noch die Schallhorntöne des wüthenden Heeres der Umsturzsüchtler auch nur
einen Zug ihres erhabenen Götterantlitzes zu ändern vermocht haben. Sie
bleibt dieselbe in ewiger Jugend, und wie auch "Völker verrauschen und
Namen verklingen," – wie "das Alte sinkt," – immer
auf's neue wird deutsche
Jugend an deutscher Poesie emporblicken, und nach den Kränzen ringen,
die ihre Hand den Würdigen verleiht.
Meiningen, im Mai 1854.
Ludwig Bechstein.
Erstdruck und Druckvorlage
Ludwig Bechstein (Hrsg.): Deutsches Dichterbuch.
Leipzig: Schlicke 1854, S. V-VIII.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
PURL: https://hdl.handle.net/2027/nnc1.0043360190
URL: https://books.google.fr/books?id=trhAAAAAYAAJ
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer