Wolfgang Menzel

 

Die Gesänge der Völker.
Lyrische Mustersammlung in nationalen Parallelen.

 

Vorwort.

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Menzel
Literatur: Anthologie

 

[III] Von den übrigen lyrischen Sammelwerken der neuern Zeit unterscheidet sich das vorliegende dadurch, daß es nur echte Nationallieder enthält und zu denselben aus dem Bereiche der vornehmen und gelehrten Poesie nur solche hinzufügt, die ihres volksthümlichen Inhaltes und Tones wegen wirklich beim Volke allgemein beliebt wurden. Ein Werk dieser Art fehlt noch. Herders "Stimmen der Völker" waren nach einem ähnlichen Plane gesammelt; allein Herder kannte die echten Nationalgesänge noch bei Weitem nicht in dem Umfange, wie wir sie heute kennen. Alle andern neuern Sammlungen verfolgen nicht denselben Plan, sofern sie nämlich entweder dem Lyrischen auch noch Bruchstüde aus didaktischen, epischen und dramatischen Werken einmischen und eine Eintheilung nach poetischen Gattungen und Versmaßen vornehmen, oder chronologisch verfahren, alle ohne Ausnahme aber sich vorzugsweise an die schriftlichen Werke der vornehmeren Dichter halten, nicht an den lebendigen Volksgesang, und demnach auch meist nur die sub[IV]jectiven Stimmungen und Reflexionen individueller Geister, nicht den Ausdruck des reinen Volksgemüths wiedergeben. Deshalb nun schien es mir der Mühe werth zu sein, wieder einmal die echten Nationallieder zu sammeln und auf den Plan Herders zurückzukommen, denselben aber mit den reichen Mitteln unserer Gegenwart weiter auszuführen.

Ich habe in meiner Arbeit zugleich auf nationale Parallelen Bedacht genommen. Durch alle Zeiten und Völker gehen die ewigen Gefühle der reinen Menschlichkeit in einer wunderbar übereinstimmenden lyrischen Strömung hindurch, und es gewährt ein hohes Interesse, zu entdecken, wie man schon vor Tausenden von Jahren im fernen Indien und China, Persien und Hellas eben so menschlich empfand, wie heute im gebildeten Europa. Je inniger aber die Verwandtschaft der Grundgefühle in den Menschen, um so charakteristischer treten die nationalen Unterschiede in der Form hervor, daher ich möglichst oft die verschiedenen nationalen Ausdrucksweisen desselben lyrischen Gefühls vergleichend neben einander gestellt habe.

Die unzähligen Gefühle, welche die Völker in ihren Liedern aussprechen, sind von einer sittlichen Reinheit, daß sie in dieser Beziehung unbedingt den Vorzug vor der Kunstpoesie der höhern Bildungsstufen verdienen. Wenn aber in spätern verderbteren Zeiten Manches zum Volkslied wurde, was jenen Charakter der Reinheit nicht mehr an sich trägt, so habe ich in dieser Sammlung, sofern sie auch in die Hände der reifern Jugend kommen wird, geflissentlich alles Ungeziemende vermieden, ohne darum den gesunden und heitern Volkshumor auszuschließen.

Die Eintheilung des reichen Stoffes ergiebt sich von selbst. Den ersten Rang müssen natürlicherweise die religiösen Hymnen, [V] Gebete, Danklieder etc. einnehmen, aus deren fast unendlicher Zahl ich jedoch nur solche hervorheben zu dürfen glaubte, die in besonders charakteristischer Weise die Tiefen des religiösen Bedürfnisses bei allen Völkern, besonders in den Hauptrichtungen der Gottesfurcht und des Gottvertrauens aufschließen, und von denen die meisten zur Liturgie gehörten, hochberühmt und überall gesungen waren.

Der zweite Rang gebührt sodann den Liedern, in welchen Nationalstolz, Freiheitssinn und kriegerischer Muth der Völker ihren lebendigsten Ausdruck gefunden haben, und von denen ebenfalls eine große Zahl zu den berühmtesten Liedern der Welt gehört. An sie müssen sich einerseits die loyalen Nationalgesänge zu Ehren geliebter oder gefüchteter Herrscher, andrerseits die Heldenlieder und wildfreien Gesänge der Soldaten und Jäger anschließen.

Diesen männlichen Liedern folgen sodann die schönsten und zartesten Liebeslieder aller Nationen, dazu auch eine Auswahl solcher Romanzen und Balladen, in denen Glück und Unglück der Liebe in rührenden Beispielen geschildert sind, und die zu den beliebtesten Volksliedern gehören.

Ferner die überall auf Erden vorkommenden Frühlingslieder und andere volksthümliche Gesänge, in denen die Natur und der landschaftliche Hintergrund des Volkslebens sich spiegeln. Ländliche Lieder; Gesänge häuslicher Arbeit, Freude und Trauer; Lieder der Freundschaft und Geselligkeit; Trinklieder, Scherzlieder; Klage- und Grabgesänge.

Daß die vorliegende Sammlung nicht zu weit ausgedehnt wurde, geschah mit Absicht. Wenn sich auch in den Raum eines mäßigen Bandes nicht alles Schöne zusammendrängen läßt, was die Völkerpoesie aufzuweisen hat, so gewährt doch gerade [VI] die Auswahl des Besten in jeder Gattung eine Befriedigung, welche beim langwierigen Durcharbeiten eines massenhafteren Materials leicht in Ermüdung übergehen würde. Der gesunde und stärkende Hauch echter Poesie zertheilt sich in bändereichen Werken und die Wirkung wird abgeschwächt, Lieber mehr Geist, dachte ich, und weniger Papier!

Stuttgart, 1. October 1850.

                                                            Wolfgang Menzel.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Wolfgang Menzel [Hrsg.]: Die Gesänge der Völker.
Lyrische Mustersammlung in nationalen Parallelen.
Leipzig: Mayer 1851, S. III-VI.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.32044089048235
URL: https://books.google.fr/books?id=di9cAAAAcAAJ
URL: https://archive.org/details/diegesngedervlk00menzgoog
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10574316

 

 

Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 – 1914

 

 

 

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