Dreyhaupt

 

[Rezension]

[Auszug]

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Dreyhaupt
Literatur: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst

 

Deutscher Musenalmanach. Erster Jahrgang. Mit Beiträgen von Friedrich Rückert, Nic. Lenau, L. Bechstein u. A. und einer Composition von Felix Mendelssohn Bartholdy. Mit 2 Stahlstichen. Leipzig, Bernh. Tauchnitz jun.

 

[873] Wir können uns nicht rühmen, alle Musenalmanache gesehen gesehen zu haben, die bis jetzt in Deutschland erschienen sind, dennoch wagen wir zu behaupten, so verschwenderisch, wie der vorliegende, sei mit Druck, Papier und Stich noch keiner ausgestattet worden. Aber wie sich denn heut zu Tage Alles, Weiber, Juden und Buchhändler emancipirt, so hat sich hier die Ausstattung vom Inhalt, vom künstlerischen und poetischen Gehalt vollkommen unabhängig gemacht. Die Emancipation des Buchhändlers vom Redacteur ist ohne Zweifel die Ursache der weiteren Verselbständigung des Typographen und Kupferstechers, ihrer Befreiung von einer Dienstbarkeit bei der Poesie, die bisher in einem Musenalmanach für eben so wesentlich gegolten hat, als ein Redacteur für den Verleger. Wie Ausstattung und Format von dem des Chamisso'schen Musenalmanachs abweicht, so ist auch die Anordnung nach den Dichtern aufgegeben. Es tritt dafür ein wüstes Durcheinander ein, welches durch die Zusammenstellung der Judenlieder, der erzählenden Gedichte, der Sonette u.s.w. wahrlich nicht gewinnt und nur den Vortheil gewährt, daß die wenigen Celebritäten, vornehmlich der fruchtbare Rückert, den ganzen großen Wust der Namen- und Talentlosigkeit überall mit einem goldenen, wenn auch noch dünnen Faden der alten Tradition durchwirken, der Tradition, in dem deutschen Musenalmanach eine Sammlung berühmter, jetzt geltender Lyriker darzubringen. Der Jahrgang ist deswegen mit Recht der erste genannt. Denn er stiftet einen neuen, einen ganz entgegengesetzten Brauch. Dazu gehört auch die Beseitigung einer verantwortlichen Redaction. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, Rückert. sei der Herausgeber; und wenn wir flüchtig auf den ersten, sehr sinnreich verzierten Titel blicken, der Rückert's Bild und Namen (den Namen als Unterschrift des Bildes, aber an der Stelle, wo sonst der Autor oder Herausgeber steht), [874] im Schilde führt, so werden wir einen Augenblick denken, das Gerücht sei also doch in Erfüllung gegangen. Erst der zweite Titel, wie wir ihn überschrieben, enttäuscht uns und zeigt offen und deutlich, daß der Verleger ganz selbständig dasteht. Dieser Schritt ist eine Revolution von ungeheuern Folgen, keine Theilung der Arbeit, sondern eine Vereinigung, keine gelehrte Bildung und kritische Einsicht für sich, sondern mit dem Geschäft zugleich verbunden, keine Rücksicht auf die Poesie, sondern lediglich auf den Absatz. Daß dieser jedoch ohne poetischen Werth durch rein buchhändlerische Thaten mit Sicherheit nicht zu erzielen sein möchte, – diese Betrachtung scheint sich hinterher dennoch wieder eingefunden zu haben; und um nicht alles von dem Ruf der Firma, von Druck, Papier und Stich abhängig zu machen, sind drei namhafte Lyriker (auch L. Bechstein hält der Verleger für einen Lockvogel) auf den Titel gesetzt, nicht ohne Verstoß gegen andere ebenfalls renommirte Dichter der Sammlung, als z. B. König Ludwig v. Baiern, Dingelstedt, Adolf Bube, von Sallet, Seidl, L. Storch, C. B. von Miltitz, E. v. Schenk, Emerentius Scävola. Dies sind von den 80 Dichtern des Musenalmanachs die 12 nahmhaften, und Herrn Bernhard Tauchnitz wäre also das Verdienst nicht abzusprechen, uns mit 68 neuen Lyrikern bekannt gemacht zu haben, "mit einem ganzen deutschen Helikon," wie Rückert in der Schlußwidmung dieser Sammlung an den Prinzen Albert von Coburg sich ausdrückt. Ja, Rückert kommt, wie Xerxes über Griechenland, mit Heeresmacht über uns, und es wird ein zweites Salamis nöthig, wenn die alten berühmten Helenen sich nicht gänzlich aus dem Lande des Ruhms wollen vertrieben sehen. – Wir beginnen von den namhaften Männern, haben sodann zwei bis drei gelungene Gedichte hervor zu heben und werden zuletzt mit wenigen Worten auf den Schwarm uns einlassen. Also vor Allen

 

1. Rückert.

 

Rückert ist insofern ein interessantes Phänomen, als es reizen kann, in dem Gange, den unsere neueste Poesie genommen, den Punkt aufzufinden, an den er historisch sich anknüpft. Das wird aber nicht so leicht gelingen. Im All[875]gemeinen kann man vielleicht sagen, daß in ihm der Pedantismus der Vossischen Manier sich mit der unwahren, reflectirten und aller Ursprünglichkeit entbehrenden Lyrik der Romantiker, deren traditionelle Formen hinzugenommen, verbunden habe. Leichter wäre es, in früheren Jahrhunderten eine Analogie für ihn zu finden. Wir dürfen uns nur der Wendung erinnern, die mit dem Ende des 13ten Jahrhunderts die deutsche Lyrik genommen, um in der Manier eines Frauenlob z. B. ein ähnliches Verhältniß zu der idealern, auf Totalität der Empfindung beruhenden und aus dem Leben des Gemüths heraus sich gestaltenden Lyrik Reinmar's des Alten, Hartmann's, Walther's anzuschauen, wie Rückert's Lyrik, in Vergleich zu der seelenvollen und schwungsreichen Lyrik Göthe's und Schiller's es darbietet. Bei Frauenlob, wie bei Rückert, keine Spur von Unmittelbarkeit und gemüthlicher Betheiligung; das Musikalische der Form ganz zurückgetreten; keine Modulation der Rhythmen, kein Fall und Fluß; dafür schwierige Strophenzusammensetzungen, gesuchte, mit grellem Ton in das Ohr fallende Reime, ungewöhnliche obsolete Audruckweise, zusammengekeilte Wortstellung, und was den Inhalt betrifft, nichts als Reflexion, die sich mit geschmacklofer Gelehrsamkeit, mit unästhetischen Bildern und Gleichnissen aufstutzt. Das fand damals Bewunderer, und Reinmar von Zweter, von dem diese üble Manier ausging, wurde von einem Zeitgenossen ausdrücklich über die größten Meister der verwichenen Epoche gesetzt, er, "der selbst faules Holz und Knochen zu glossiren und poetisch zu verwenden wisse," während Frauenlob selbst von sich sagt: "die älteren Meister seien den schmalen Weg neben kunstreicher Straße gefahren, sie hätten nur den Schaum des Kessels geschöpft, er dagegen dringe auf den Grund und vergolde ihrer aller Gesang." So mag sich wohl auch Rückert viel dünken mit seiner Weisheit, die indeß Jeder, dem es auf Erkenntniß ankommt, viel besser bei dem ersten besten Philosophen finden wird. Und auch ihm ist es nur zu sehr geglückt, eine Schaar von Verehrern um sich zu sammeln. – Man würde den Deutschen Unrecht thun, wenn man ihnen nachsagte, daß sie weniger Sinn und Empfindung für wahre Poesie hätten, als andere gebildete Völker; aber das ist sicherlich wahr, daß sie mehr als irgend eines von Tradition und Autoritäten abhängig sind, und daß, wenn sie einmal aus irgend einem Grunde in irgend einer Verehrung fix geworden sind, ihnen alles Mögliche geboten werden kann, so daß sie zum Erstaunen sinnreich sind, allem ästhetischen Gefühl zum Trotz das Verfehlteste und Absurdeste sich zurecht zu machen. Jeder, der ihnen die Augen öffnen will, heißt sofort ein Frevler, begeht ein Sacrilegium.

[881] Rückert geht alles ab, was zur poetischen Disposition gehört: Einheit und Unmittelbarkeit der Empfindung, eindringende Intuition und gestaltende Phantasie. Jene durchgehende (gewissermaßen naturbestimmte) Einheit und Unmittelbarkeit der Empfindung ist das erste Erforderniß des Dichters, insofern das Sinnlich-Geistige, das Geistige in subjectiver, individueller und darum naturbestimmter Affection der Boden aller Kunst ist. Darum ist die Lyrik, wenn auch die niedrigste Gattung der Poesie, doch zugleich die, an welcher die poetische Disposition als solche am entschiedensten sich erkennen läßt.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst.
Jg. 3, 1840:
Nr. 110, 7. Mai, Sp. 873-875
Nr. 111, 8. Mai, Sp. 881-888
Nr. 112, 9. Mai, Sp. 889-896
Nr. 113, 11. Mai, Sp. 897-900.

Gezeichnet: Dr. Dreyhaupt in Frankfurt.

Unser Auszug:
Nr. 110, 7. Mai, Sp. 873-875
Nr. 111, 8. Mai, Sp. 881.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst   online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Zeitschriften_(Philosophie)#H
URL: http://www.ub.uni-koeln.de/cdm/search/collection/hallische
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URL: http://data.onb.ac.at/rep/10AC433F
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/531829-4
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/531830-0

Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst   inhaltsanalytische Bibliographie
Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts - IBDK. Band 4. München u.a. 1996, S. 197-359.

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

das rezensierte Werk

 

 

 

Literatur: Dreyhaupt

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Eke, Norbert O. (Hrsg.): Vormärz-Handbuch. Bielefeld 2020.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 31-59.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

Literatur: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst

Eck, Else von: Die Literaturkritik in den Hallischen und Deutschen Jahrbüchern (1838 – 1842). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Nendeln/Liechtenstein 1967.

Günter, Manuela / Butzer, Günter: Zur Funktion der Literatur im Vor- und Nachmärz. Robert Prutz' Weg von den Hallischen Jahrbüchern zum Deutschen Museum. In: Vormärz – Nachmärz. Bruch oder Kontinuitäts Vorträge des Symposions des Forum Vormärz Forschung e.V. vom 19. bis 21. November 1998 an der Universität Paderborn. Hrsg. von Norbert Otto Eke u.a. Bielefeld 2000 (= Forum Vormärz Forschung; Vormärz-Studien, 5), S. 229-252.

Hundt, Martin (Hrsg.): Der Redaktionsbriefwechsel der Hallischen, Deutschen und Deutsch-Französischen Jahrbücher (1837 – 1844).
3 Bde. Berlin: Akademie-Verlag 2010.

Obenaus, Sibylle: Die deutschen allgemeinen kritischen Zeitschriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entwurf einer Gesamtdarstellung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1973), Sp. 1-122.

Oellers, Norbert: Die "Hallischen Jahrbücher" und die deutsche Literatur. In: Philosophie und Literatur im Vormärz. Der Streit um die Romantik (1820 – 1854). Hrsg. von Walter Jaeschke. Hamburg 1995 (= Philosophisch-literarische Streitsachen, 4), S. 141-152.

Rosenberg, Rainer / Kopp, Detlev (Hrsg.): Journalliteratur im Vormärz. Bielefeld 1996 (= Forum Vormärz-Forschung. Jahrbuch 1. 1995).

 

 

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Lyriktheorie » R. Brandmeyer