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Editionsbericht
Literatur
Lyrik und lyrische Poesie heißt diejenige Gattung der Poesie,
durch
[789] welche der Dichter sein inneres Leben im Zustande des bewegten Gefühls unmittelbar
darstellt. Dadurch, daß in derselben das Gefühl das Herrschende ist, ist sie
von der dramatischen Poesie, in welcher die Anschauung zu einem von dem Innern
des Dichters verschiedenen Leben selbständig ausgebildet ist, und von der epischen verschieden,
welche in ihren vollendetsten Werken einen umfassenden Kreis der Handlungen in einer
anschaulichen Begebenheit, als von dem Dichter angeschaut, darstellt, und beides,
Gefühl und Anschauung, noch in vollem Gleichgewichte enthält. Verglichen mit Epos und Drama, ist das
lyrische Gedicht das beschränkteste, denn das Gefühl ist beschränkt auf den Augenblick
der Gegenwart, aber um desto tiefer, voller und mächtiger spricht es das Gemüth an. Was
der lyrische Dichter gibt, gibt er als sein eignes Innere, weshalb man auch die lyrische Poesie
die subjective, im Gegensatze der übrigen Dichtungsarten, genannt hat. Auch heißt daher
im weitern Sinne jede Darstellung lyrisch, welche nicht sowol die Gegenstände des Gefühls,
wie sie an sich erscheinen, als vielmehr den subjectiven Zustand, oder wenigstens die
Gegenstände durch den Eindruck schildert, welchen sie auf das Gemüth hervorbringen.
Indem aber die lyrische Dichtkunst das Gefühl am unmittelbarsten durch die Sprache
ausdrückt, nähert sie sich der Tonkunst, welche das Gefühl durch Töne und deren
Verbindung am reinsten darstellt; daher auch die griech. Lyrik von der Lyra ihren Namen hat und
Gedichte bezeichnet, die zur Lyra gesungen werden konnten. Obgleich nun in der
lyrischen Dichtkunst sich Alles im Gefühle auflöst und zum Gefühle wird, so ist doch nicht jeder
Ausdruck des lebhaften Gefühls in Versen ein lyrisches Gedicht zu nennen. Überhaupt hat man den
auf das Wesen der lyrischen Poesie gegründeten Satz: die lyrische Poesie soll das
innere Leben und Gefühl des Dichters, d.i. das harmonische, poetische Gefühl darstellen, von jeher
in die falsche Behauptung umgekehrt, der lyrische Dichter solle sein subjectives Leben oder sein
Gefühl darstellen. Es fragt sich also, inwiefern ist das Gefühl poetisch zu nennen?
Ein solches muß, zufolge der Natur des Kunstwerks, in sich selbst harmonisch und würdig sein, in
eigenthümlicher und schöner Rede sich selbständig auszusprechen. Durch Ersteres wird gefodert, daß
ein bestimmtes Gefühl das herrschende sei, aus welchem sich die Empfindungsreihe entwickelt,
und daß es nichts Widerstreitendes in sich enthalte, was mit der zum Grunde liegenden
Stimmung unvereinbar wäre, daß es mithin des Gegenstandes, welcher es veranlaßte, würdig,
demselben sowol der Art als dem Grade nach entsprechend sei, eine Reihe von Anschauungen hervorrufe,
welche dazu dienen, die innere Stimmung zu schildern, und daß es den durch die Sprache
dargestellten Gedanken ganz durchdringe. Dieses Gefühl aber in allen anschaulichen
Beziehungen des Gedankens auszudrücken, dasselbe in der Bewegung der Worte (Rhythmus)
und ihrem entsprechenden Klange gleichsam äußerlich zu machen und entsprechend darzustellen,
sodaß es nicht blos als das Gefühl des Einzelnen, sondern als das Gefühl des
vollendeten Menschen erscheine, ist nur dem Genius möglich, und man kann in dieser Beziehung
das lyrische Gedicht die in der Sprache festgehaltene Stimmung des genialen Dichters
als eines solchen nennen. Aus der Natur des Gefühls ergibt sich der beschränktere Umfang
des lyrischen Gedichts, sowie der Wechsel und die große Mannichfaltigkeit des Styls
und Rhythmus, welche sich in den tausendfältigen lyrischen Versarten, in der kühnern
Gedankenverbindung und in der Eigenthümlichkeit lyrischer Bilder
an den Tag legt. So mannichfaltig sich das Gefühl poetisch äußern kann, so mannichfaltig ist
das lyrische Gedicht; zunächst aber offenbart sich das Gefühl, und am reinsten in der
Gegenwart; mittelbarer, wenn es als Vergangenes durch die Erinnerung modificirt erscheint.
Hiernach könnte man die Lyrik in die rein lyrische Poesie, wozu der Hymnus (bei uns
größtentheils eine religiöse Ode), die Ode und das Lied gehören, an welche sich mehre metrische
Formen der Italiener und Spanier (Sonette, Canzonen, Sestinen, Glossen u.s.w.) anschließen, und in die
elegische eintheilen, zu welcher das
[790] Epigramm im Sinne der Griechen, und mehre sogenannte didaktische Gedichte gehören.
Von dem Begriffe der Lyrik ist der abgeleitete Begriff des Lyrischen zu unterscheiden, durch welchen man eine
Behandlung bezeichnet, welche weniger aus dem gegebenen Stoffe als aus der subjectiven Auffassung hervorgeht.
Erstdruck und Druckvorlage
Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände.
(Conversations-Lexikon.)
In zwölf Bänden. Achte Originalauflage.
Sechster Band: K bis Lz.
Leipzig: Brockhaus 1835, S. 788-790.
Ungezeichnet.
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10400760-6
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Lyriktheorie » R. Brandmeyer