Ludwig Uhland

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

                    Vorwort.

 

5   Lieder sind wir, unser Vater
Schickt uns in die offne Welt,
Auf dem kritischen Theater
Hat er uns zur Schau gestellt.
Nennt es denn kein frech Erkühnen,
10   Leiht uns ein geneigtes Ohr,
Wenn wir gern vor euch Versammelten
Ein empfehlend Vorwort stammelten!
Sprach doch auf den griech'schen Bühnen
Einst sogar der Frösche Chor.
15    
Anfangs sind wir fast zu kläglich,
Strömen endlos Thränen aus,
Leben dünkt uns zu alltäglich,
Sterben muß uns Mann und Maus.
Doch man will von Jugend sagen,
20   Die von Leben überschwillt;
Auch die Rebe weint, die blühende,
Draus der Wein, der purpurglühende,
In des reifen Herbstes Tagen,
Kraft und Freude gebend, quillt.
25    
[4] Und, bei Seite mit dem Prahlen!
Andre stehn genug zur Schau,
Denen heisse Mittagsstralen
Abgeleckt den Wehmuthsthau.
Wie bei alten Ritterfesten
30   Mit dem Tode zog Hanswurst,
Also folgen scherzhaft spitzige
Und, will's Gott! erträglich witzige.
Aechtes Leid spaßt oft zum besten,
Kennt nicht eiteln Thränendurst.
35    
Lieder sind wir nur, Romanzen,
Alles nur von leichtem Schlag,
Wie man's singen oder tanzen,
Pfeifen oder klimpern mag.
Doch vielleicht, wer stillem Deuten
40   Nachzugehen sich bemüht,
Ahnt in einzelen Gestaltungen
Größeren Gedichts Entfaltungen
Und als Einheit im Zerstreuten
Unsres Dichters ganz Gemüth.
45    
Bleibt euch dennoch Manches kleinlich,
Nehmt's für Zeichen jener Zeit,
Die so drückend und so peinlich
Alles Leben eingeschneit!
Fehlt das äußre freie Wesen,
50   Leicht erkrankt auch das Gedicht;
Aber nun die hingemoderte
Freiheit Deutschlands frisch aufloderte,
Wird zugleich das Lied genesen,
Kräftig steigen an das Licht.
55    
[5] Seyen denn auch wir Verkünder
Einer jüngern Brüderschaar,
Deren Bau und Wuchs gesünder,
Höher sey, als unsrer war!
Dies ist, was wir nicht geloben,
60   Nein! vom Himmel nur erflehn.
Und ihr selbst ja seyd Vernünftige,
Die im Jetzt erschaun das Künftige,
Die an junger Saat erproben,
Wie die Frucht einst wird bestehn.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Gedichte von Ludwig Uhland.
Stuttgart und Tübingen: Cotta 1815, S. 3-5.

URL: https://opacplus.bsb-muenchen.de/title/BV001712711
PURL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00018E9A00000000
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/011922725
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/uhland_gedichte_1815

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

Entstehung: 28./29. August u. 12. September 1814.
Vgl. J[ulius] Hartmann (Hrsg.): Uhlands Tagbuch 1810 – 1820. Aus des Dichters handschriftlichem Nachlaß.
2. Aufl. Stuttgart: Cotta 1898, S. 141 u. 143.
URL: https://archive.org/details/bub_gb_M5kuAAAAYAAJ

 

 

Kommentierte und kritische Ausgaben

 

 

 

Literatur

Brandmeyer, Rudolf: Poetologische Lyrik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 164-168.

Decker, Jan-Oliver: Selbstreflexion der Ballade in der Ballade. Uhlands Des Sängers Fluch (1815) und Goethes Ballade (1820. In: Selbstreferenz in der Kunst. Formen und Funktionen einer ästhetischen Konstante. Festschrift für Claus-Michael Ort. Hrsg. von Nikolas Buck u. Jill Thielsen. Baden-Baden 2020, S. 151-164.

Dehrmann, Mark-Georg: Des Sängers Fluch. Philologie und Dichtung bei Ludwig Uhland. In: Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Mark-Georg Dehrmann u.a. Bern u.a. 2010 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik; N.F., 22), S. 83-100.

Dehrmann, Mark-Georg: Studierte Dichter. Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Berlin u.a. 2015.

Doerksen, Victor G.: Ludwig Uhland and the Critics. Columbia, SC 1994.

Gymnich, Marion / Müller-Zettelmann, Eva: Metalyrik: Gattungsspezifische Besonderheiten, Formenspektrum und zentrale Funktionen. In: Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen. Hrsg. von Janine Hauthal u.a. Berlin u.a. 2007 (= spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature, 12), S. 65-91.

Hinck, Walter (Hrsg.): Schläft ein Lied in allen Dingen. Das Gedicht als Spiegel des Dichters. Poetische Manifeste von Walther von der Vogelweide bis zur Gegenwart. Frankfurt a.M. 1985.

Klenner, Andreas: Vom romantischen Volkslied zur Vormärzlyrik. Poetische Entwicklungslinien bei Kerner, Uhland und W. Müller. Berlin 2002.

Knödler, Stefan: Schwäbische philologische Romantik. In: Romantik in Württemberg. Hrsg. von von Nicole Bickhoff u. Wolfgang Mährle. Stuttgart 2020, S. 151-172.

Lombez, Christine: La traduction de la poésie allemande en français dans la première moitié du XIXe siècle. Réception et interaction poétique. Tübingen 2009 (= Communicatio, 40).
Uhland passim.

Paefgen, Elisabeth K.: Uhland – Goethe – Geibel. Anmerkungen zur lyrischen Kanonentwicklung im "Echtermeyer" des 19. Jahrhunderts. Volkstümlichkeit – Klassik – Nationales. In: Literaturdidaktik – Lektürekanon – Literaturunterricht. Hrsg. von Detlef C. Kochan Amsterdam 1990 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 30), S. 251-287.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u. New York. 2004.

Potthast, Barbara (Hrsg.): Provinzielle Weite. Württembergische Kultur um Ludwig Uhland, Justinus Kerner und Gustav Schwab. Heidelberg 2014 (= Beihefte zum Euphorion, 71).

Singh, Stephanie: Art. Uhland. In: Internationales Germanistenlexikon, 1800 – 1950. Bd. 3. Berlin u.a.: de Gruyter 2003, S. 1918-1920.

Uhland, Ludwig: Das Stylisticum. Hrsg. von Helmuth Mojem u. Stefan Knödler. 2 Bde. Göttingen 2022.

Waldmüller, Monika: Bibliographie Ludwig Uhland. Selbständige und unselbständige Drucke zu Lebzeiten 1806-1862. In: Ludwig Uhland 1787 – 1862. Dichter, Germanist, Politiker. Hrsg. von Walter Scheffler u.a. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1987 (= Marbacher Magazin, 42), S. 77-95.

Zimmer, Ilonka: Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2009 (= Siegener Schriften zur Kanonforschung, 8).

 

 

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Lyriktheorie » R. Brandmeyer